Synopsis
SCHICHT ist zugleich Abrechnung und Spurensuche nach der (eigenen) Vergangenheit. Alex Gerbaulet begibt sich in ihrem Film auf einen Schwindel erregenden Trip durch Salzgitter: Eine Stadt wie ein Cyborg, in der sich Faser für Faser Geschichte ablagert. Roter Faden ist ihre Familiengeschichte, die durch Aufzeichnungen aus dem Privatarchiv zum Leben erweckt wird.
Bergbau, Stahlwerk, Musterstadt. Über die Jahre 33 und 45 projiziert sich die erste Nachkriegsgeneration in die Zukunft. Ihr Vater Rudolf lernt in den Reichswerken, arbeitet im Bergbau und bei VW. Mutter Doris erkrankt an Multipler Sklerose. Ihr Tagebuch ist Ausdruck ihres langsamen Verschwindens. Ihre Tochter benennen sie nach einer Sängerin: Alexandra. Die Tochter findet als rebellierende Punkerin einen anderen Rhythmus.
Pulsierend, manchmal atemlos, folgt der Film dem Strom freigelegter Geschichten. Heute gefilmte Orte werden mit Archivmaterial attackiert: Propaganda, Nachrichten, Fotos aus Familienalben. Alles wird einer subjektiven Lesart unterworfen.
Ein Film zwischen Analyse und Imagination, komponiert aus dem Punk der Jugendjahre, begleitet vom Stahlwerksdröhnen und dem Rauschen der Autobahn. Unterbrochen von der schneidenden Stille stillgelegter Bergwerke, in die ab 2020 radioaktiver Müll verbracht wird. Halbwertzeit 24.000 Jahre. 685 Generationen.
Credits
Buch / Regie Alex Gerbaulet
Sprecherin Susanne Sachsse
Kamera Alex Gerbaulet, Smina Bluth
Ton Tom Schön
Schnitt Philip Scheffner
Sound Design Pascal Capitolin
Recherche Ines Meier
Produzentin Merle Kröger
Koproduzent Uli Plank
Eine Produktion von pong film
in Koproduktion mit Institut für Medienforschung an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig
Entwicklung gefördert durch Künstlerinnenprogramm des Berliner Senats, Berlinale Talents DOC Station
Produktion gefördert durch nordmedia, Hessische Filmförderung
Kontakt
pong film
Alex Gerbaulet
Email: gerbaulet(at)pong-berlin.de
Tel: ++49 (0)30 61076098
Visuals
Mehr Infos
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festivals
Weltpremiere: Internationale Kurzfilmtage Oberhausen 2015
Internationale Premiere: FID International Film Festival Marseille 2015Weitere Festivals 2015-17 (Auswahl):
- Open Documentary Film Festival "Rossiya" in Ekaterinburg
- UNDERDOX Filmfest München
- Cinematek Brüssel im Rahmen von "The Cost of Wealth"
- Cinéphémère at FIAC Paris
- Doclisboa
- Kasseler Dokumentarfilm- und Video Fest
- blicke Filmfestival des Ruhrgebiets
- transmediale Berlin
- Internationale Kurzfilmwoche Regensburg
- Bucharest International Experimental Film Festival
- International Short Film Festival Dresden
- Internationales Frauen Film Festival Dortmund | Köln
- European Media Art Festival Osnabrück
- DOCUMENTAMADRID
- Vienna Independent Shorts
- Internationales Kurz Film Festival Hamburg
- Festival de Cine de Huesca
- Moscow International Experimental Film Festival
- Belo Horizonte International Short Film Festival
- Carbonia Film Festival
- L'Alternativa Barcelona
- International Short & Independent Film Festival Dhaka
- VIDEONALE.16
- UNIONDOCS New York City
- Museu de Cinema de Girona
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preise
- Hauptpreis Deutscher Wettbewerb | Internationale Kurzfilmtage Oberhausen 2015
- Prix Premiere | FID Marseille 2015
- Preis der Deutschen Filmkritik 2015
- Best Female Director Award | Vienna Independent Shorts 2016
- Jurypreis des Deutschen Wettbewerbs | Internationales Kurz Film Festival Hamburg 2016
- Best Documentary Film | Moscow International Experimental Film Festival 2016
- Best Short Film | L’Alternativa Festival de Cinema Independent de Barcelona 2016
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ausstellungen
- 2023
Galerie der Künstler*innen München | Ausstellung 'Apfelflug vom Stamm' - 2020
Akademie der Künste der Welt Köln, Filmprogramm zur 'Ausstellung Geister, Spuren Echos: Arbeiten in Schichten' - 2017
Gene Siskel Film Center Chicago | Films by Alex Gerbaulet
UNIONDOCS New York City | Films by Su Friedrich & Alex Gerbaulet
Videonale.16 Ausstellung Bonn
Mal Seh'n Kino Frankfurt | Unter der Oberfläche – Alex Gerbaulet
Filmprogramm zur Ausstellung 'Schichten' im Luru Kino Leipzig - 2016
ICI BERLIN | 'In Front of the Factory: Cinematic Spaces of Labour' - 2015
Cinéphémère at FIAC - Foire Internationale d'Art Contemporain;
Radialsystem V Berlin | Kurzfilmprogramm 'Generation Freiheit'
- 2023
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Autor*innen Statement
SCHICHT ist nicht zuletzt ein Film über das (Mit-)erleben eines Sterbens. Der Film beginnt am Grab meiner Mutter, springt dann in der Zeit zurück und zeichnet ihr langsames Verschwinden nach. Viele Gefühle aus meiner Jugend – Wut, Aggression, Hilflosigkeit –, die der Film orchestriert, haben ihren Ursprung im Miterleben ihres Schwebens zwischen Leben und Tod.
Eindrückliches Bild dieses Schwebezustands ist das Bett, in dem Doris ihre letzten Lebensjahre verbracht hat. Ein Spezialbett für Dekubitus-Patienten, das über ein Gebläse die Matratze anhebt, die den Patienten in der Schwebe hält. Der Körper, der keine Abwehrkräfte mehr hat, soll vor zu viel Druck auf die Haut bewahrt werden. Die Patienten verlieren allerdings ihre Körpergrenzen und nehmen sich nicht mehr richtig wahr.
Im Schwebezustand meiner Mutter besteht für mich eine Analogie zu dem Schwebezustand, in dem sich die Stadt Salzgitter heute befindet und den ich in meinen Bildern von der Stadt einzufangen suche.
Auch Salzgitter stirbt als Industriemetropole. Sie ist eine ‚shrinking city’, die Arbeitslosigkeit ist hoch, junge Menschen wandern ab, die Stadt verödet. Eine einst florierende Schwerindustrie stellt sich heute immer breiter auf - wie es heißt - und verlegt sich auf Nischenprodukte oder operiert zusätzlich im Dienstleistungsbereich. Das mag zwar den Umsatz steigern, aber schafft nicht mehr Arbeitsplätze. Der ‚Guardian’ hat am 20.9.2013 über Salzgitter berichtet: „Analysts say Germany must act before it becomes full of ghost towns.“ Die Gruben sind schon lange dicht. Und dennoch liegt hier die Zukunft, auch wenn diese nicht als Aufbruch in eine neue Zeit gefeiert wird. Das postindustrielle Zeitalter bedeutet für Salzgitter, dass die Stadt zur Müllhalde der Republik wird. Ein neuer Grundstein wird heute für die Stadt von morgen gelegt: Er besteht aus in Beton gegossenen Fässern mit atomarem Abfall. Das neue Fundament, das die Stadt Salzgitter der Zukunft tragen wird, wird in die endlosen Gänge der früheren Bergwerke verfüllt. Die Hochsicherheitsanlage des zukünftigen Endlagers ist heute schon in Teilen sichtbar.
Der Aufbau der Stadt war ein Gewaltakt, dessen Erschütterungen noch heute spürbar sind. Um die Spuren der Gründungs-Geschichte sichtbar zu machen reicht eine reine Beobachtung nicht aus, es muss gegraben, gebohrt und umgeschichtet werden. Hier kommt als ‚Werkzeug’ u.a. das Archivmaterial zum Einsatz.
Der Blick auf diese ‚Geisterstadt’ und ihre ‚Wiedergänger’ ermöglicht mir auch einen anderen Umgang mit dem Schwebezustand meiner Mutter. Von ihr ist heute nur das Grab geblieben, das Bett, das auch ohne sie weiter „atmet“ und das Haus, das sie nie bewohnt hat. Mein Vater hat es gebaut und ist dort geblieben. Täglich umkreist er die leere Mitte dieser Behausung. Täglich wiederholt er in seinem Laufen auch das Umrunden des Stahlwerks – der imaginären und tatsächlichen Mitte der Stadt. Der Film umkreist mit ihm diesen Mittelpunkt, der kein Bezugspunkt mehr ist.
Das Stahlwerk „atmet“ und raucht. Überall in der Stadt meint man das Rauschen der Industrie zu hören, das den Körper der Stadt von Innen her stabilisiert hat. Doch was passiert heute mit der Stadt, wenn diese Industrie untergeht oder zumindest schrumpft und seine Arbeiter/innen freisetzt? Der Pensionär Herbert Haschke sagt dem ‚Guardian’: „If there are no jobs, there are no homes, and soon there won’t be a town any more.“ Was passiert mit der Stadt, den Menschen, der Erde, wenn die Industrie verschwindet? Verschwindet Salzgitter, wie auch meine Mutter verschwunden ist? Das ist eine Frage, die heute viele Orte in der Welt betrifft, welche um eine Industrie herum entstanden sind. Insofern ist die Geschichte Salzgitters auch eine universelle Geschichte.
Was passiert mit dem Schacht, wenn er zugeschüttet wird, was passiert mit dem Grab meiner Mutter, wenn es eingeebnet wird? Bewegungen, die aufs Vergessen angelegt sind.
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Text über Doris
Doris | ein Text von Ines Meier | 2016
Die Bilder im Fotoalbum sind zerkratzt, rötlich verfärbt, die Fussel auf den Negativen vergrößert. Klebeecken, Bildunterschriften. Doris’ gleichmäßig geschwungene Handschrift wirkt ein bisschen naiv, jünger als sie ist. 8. Juli 1972. Es ist ihr 21. Geburtstag. Sie war beim Arzt. Blutbildkontrolle. Ohne Spritze wird sie keine drei Wochen aushalten. Sie lächelt in die Kamera, direkt, offen, vertrauensvoll und etwas verschmitzt. Ihr Blick gilt dem, der hinter dem Objektiv steht – Rudolf Gerbaulet, den sie an diesem Abend kennenlernt. Auf ihrem Hochzeitsbild trägt sie ein weißes Kleid mit Schleier und er einen schwarzen Anzug. Den Brautstrauß mit seinen bunten Blüten hält sie wie eine Beschwörung in die Kamera: Es wird alles gut gehen.
Die Bildfolge drängt sich durch die Geburtstagsfeier, durch das Zusammenstehen, die Tänze, die Luftschlangen. Nichts daran wirkt gelöst. Die Körper so stark angeschnitten, dass man die Orientierung verliert. Gäste halten sich eine Hand vors Gesicht, eine Mütze, einen Pullover. Ich will nicht fotografiert werden. Ich will nicht, dass du dir ein Bild von mir machst. Doris wird trotz Protest aufgehoben und deckenwärts geworfen, immer wieder. Sie hat Angst davor, zu fallen.
Die Bilder rasen nun durch das Übergriffige und durch die Ohnmacht, als wollten sie es so schnell wie möglich hinter sich bringen und als könnten sie gleichzeitig die Augen nicht verschließen vor dem, was da geschieht. Und kein Ende nimmt. Noch mehr Feiern. Zwei Frauen mit verbundenen Augen. Die eine schiebt der anderen mit einer Gabel Schokolade in den Mund, von rechts ragt eine Männerhand ins Bild. Sie drückt den Kopf der Frau der Gabel noch entgegen. Fasching. Grobkörnig, schwarzweiß. Alle sind sie da: Hitler, Bismarck, zwei Henker. Die einen Matrosen würgen, der das Gesicht zur Grimasse verzerrt. Eine stickige, lähmende Enge, so stark, dass sie nicht nur aus dem Inneren der Reihenhäuser dieser Mustersiedlungen kommen kann. Was wir nie, nirgendwo in diesen Alben sehen: Die Geburt der Kinder. Fotos, auf denen die Eltern mit ihren Töchtern Ramona und Alexandra zu sehen sind.
Als die Familie zerbricht, kommt Ramona in ein Kinderheim und Alexandra zu den Großeltern. Rudolf läuft. Doris zieht von Klinik zu Klinik. In ihre Handschrift frisst sich die unheilbare Krankheit hinein. Ihre Abwehrzellen wenden sich gegen den eigenen Körper. Die Nerven liegen nun sprichwörtlich blank, Reize leiten sie kaum noch weiter. Ihre Buchstaben verschlauft sie nicht mehr. Einzeln, unter großen Mühen der Hand abgerungen, stehen sie steif, kantig, gerade noch so. Den Kugelschreiber fest aufgedrückt, arbeitet sie sich Millimeter für Millimeter durch die Wörter. „Dies ist das Krankenhaus,“ schreibt sie auf eine Karte an ihre Tochter, die sie nie abschickt. Ein Bild zeigt Doris im Rollstuhl in der Klinik. Schwindel, Müdigkeit, Inkontinenz. Ihre Konturen verwischen. Ihre Bewegungen werden immer kleiner. Sie verschwindet, langsam, lähmend. Zum Fasching wird Doris von Mitpatientinnen als Hexe verkleidet. Sie trägt eine riesige Brille und ein Tuch um den Kopf. Ein schwarzer Punkt ist auf ihre Nase gemalt. Ihr Gesicht ist eingefallen. Ihr Blick direkt in die Kamera gerichtet. Irgendwie verstört, erschöpft und so, als wäre der Blitz, der sie so gnadenlos verzerrt, schon das Licht am Ende des Tunnels. -
fact sheet
Land: Deutschland 2015
Länge: 28:30 Minuten
Format: 2K DCP, ProRes mov, h264 mov | 16:9, 25 fps, Farbe & s/w | 5.1 & Stereo
Sprache: Deutsch mit englischen Untertiteln